Redebeitrag zur Kundgebung „Bewegungsfreiheit und Bleiberecht für alle“ am 20. Juni 2022

Liebe Mitstreiter*innen, liebe Freund*innen

Heute ist der „Weltgeflüchtetentag“. Einem Tag an dem sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Situation geflüchteter Menschen weltweit richten soll. Ein solcher Tag, wenngleich er wichtig ist und ein Zeichen der Solidarität darstellt, wirkt auch zynisch: denn morgen ist er wieder vorbei, die öffentliche Anteilnahme wird sich zerstreuen. Was bleibt: Die menschenrechtsverachtende Situation der Geflüchteten Menschen.Die Lebenswirklichkeit geflüchteter Menschen in Deutschland, Europa und auf der ganzen Welt ist und bleibt eine konstante humanitäre Katastrophe! Doch damit wir an eine wirkliche Veränderung denken können, braucht es einen radikalen Wandel, der die rassistischen und kolonialen Kontinuitäten durchbricht! Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Solidarisierung mit allen geflüchteten Menschen weltweit. Die Aufmerksamkeit darf nicht abreißen. Ein Tag im Jahr ist nichts weiter als ein Tropfen auf dem heiß- glühenden Stein.

Ich möchte daher über die Gleichgültigkeit sprechen, mit der viele westliche, weiße Menschen den Lebensrealitäten der Geflüchteten begegnen. Die Bewältigung dieser humanitären Katastrophen ist für mich keine direkte Frage der Aufklärung mehr. Niemand kann glaubwürdig behaupten, über die Situationen der Geflüchteten nicht Bescheid zu wissen, nicht zu wissen, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, in Libyen in unmenschlichen Lebensverhältnissen verharren, bei uns in Flüchtlingslagern auf ihre Abschiebung warten und strukturell von jeglicher gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sind. Das Problem ist: Nicht nur die politischen Entscheidungsträger*innen setzten auf rassistische Abschottung, sondern auch die Zivilgesellschaft ignoriert und bagatellisiert die Situation der Geflüchteten nachhaltig und dämonisiert sie.

Was ich seit Jahren beobachten kann, ist eine ständige voranschreitende De-Skandalisierung der Unmenschlichkeit. Je lauter der vollkommen berechtigte Protest, je lauter der leidvolle und wütende Hilfeschrei der Geflüchteten Menschen, desto tauber wird das Gehör der Gesellschaft. Der weiße bürgerliche Mensch begegnet dem Leid der Geflüchteten für das er mitverantwortlich ist, mit einem rassistischen Achselzucken. Die kontinuierliche Verletzung der Menschenrechte von Millionen verkommt zu einer Randnotiz in dem übervollen Terminkalender des modernen Menschen. Ein Tag im Jahr wird ihm eingeräumt. Das ist eine große Entsetzlichkeit unserer Zeit.

Wir von No Lager sind davon überzeugt, dass die politische und ökonomische Ausrichtung unserer Gesellschaft diese humanitäre Katastrophe in großen Teilen hervorgerufen hat und sie ständig verschärft. Der Weltflüchtlingstag ist dann zynisch, wenn er nichts verändert. Lasst uns deshalb nicht zynisch, sondern solidarisch sein – lasst uns diesen Tag nutzten, um etwas zu verändern! Um eine Veränderung von der Politk und von der Gesellschaft zu fordern.
Nun stellt sich die Frage wie eine Veränderung aus rechtlich-politischer Sicht aussehen könnte?

Die letzten Jahrzehnte wurde uns das Narrativ verkauft, dass es doch gesellschaftlich und politisch-logistisch gar nicht anders gehe: jahrelange, oft scheiternde Asylverfahren, zentrale Unterbringungen, gewaltvolle Abschiebungen – Dieser rassistische Umgang mit Flucht und Migrationsbewegungen wurde uns als alternativlos präsentiert. Dass es Alternativen gibt, zeigt die politische Reaktion auf die Fluchtbewegungen aus der Ukraine: Wenige Tage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde die EU-Richtlinie 2001/55/EG aktiviert. Diese Direktive sollte nach den Fluchtbewegungen aus dem Balkan in den Neunzigerjahren dafür sorgen, dass Flüchtende ohne bürokratische Hürden auf die EU verteilt werden können. Bei Aktivierung sorgt die Richtlinie dafür, dass Schutzsuchende aus einem bestimmten Land unkompliziert Aufenthaltstitel, Arbeitserlaubnisse und soziale Absicherung erhalten, sich ihren Aufenthaltsort in der EU auswählen und somit das Dublin-Verfahren umgehen können. Ukrainische Staatsbürger*innen können so theoretisch ohne Bürokratie in die EU einreisen, bleiben, arbeiten, ihre Kinder in die Schule schicken. Und das ist gut so! Die Betonung liegt aber auf theoretisch, denn die Realität sieht auch hier anders aus: Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion ging kürzlich hervor, dass 92 % aller geflüchteten Menschen aus der Ukraine noch keinen Aufenthaltsstatus haben. Grund dafür sind bürokratische Prozesse. Für die Menschen aus der Ukraine hat das krasse Folgen im Alltag: Ein fehlender Aufenthaltsstatus erschwert die Partizipation der Betroffenen, denn nur Menschen mit diesen Papieren können sich an die Jobcenter wenden und Leistungen erhalten, die sie dringend brauchen.

Dass die Ukrainer*innen dennoch breite politische Solidarität erfahren, ist gut und richtig, zeigt, dass es hier in EUropa und in Deutschland politisch gewollt anders gehen kann. Es zeigt aber auch die Ungleichbehandlung: Für alle anderen Geflüchteten Menschen, blieb nämlich diese Richtlinie 2001/55/EG in Brüsseler Schubladen liegen. Die Entscheidungsträger*innen in der EU und die Regierungschef*innen der Mitgliedsstaaten verschwiegen der Bevölkerung aktiv, dass es diese juristisch präzise vorbereitete Option überhaupt gibt. Das Momentum ist aber auf unserer Seite. Die konsequente Anwendung der EU-Richtlinie auf alle Geflüchteten ist die Forderung der Stunde.

Wir treten gemeinsam ein für eine Welt ohne Abschiebungen und ohne Lagerunterbringung.
Für das Recht zu gehen und zu bleiben. Bleiberecht und ein Leben in Freiheit für alle Menschen!