Grenzerfahrungen – Erfahrungsbericht von den Balkangrenzen

Dies ist ein Erfahrungsbericht zweier No Lager Aktivisten:

Wir möchten mit diesem Bericht einige Erlebnisse und Erfahrungen teilen, um mehr Öffentlichkeit über die derzeitig Situation an den europäischen Grenzen zu schaffen. Es ist ein persönlicher Bericht über das, was wir an verschiedenen Orten zwischen Slowenien, Kroatien, Serbien, Ungarn und Österreich miterlebt haben und nur ein kleiner Ausschnitt vom dem was sich zurzeit an den Grenzen der Balkanstaaten abspielt!

Triggerwarnung: Es sind teilweise heftige Szenarien, also lest es nur wenn ihr es gerade verkraften könnt!

Die komplette Schließung der Grenze zwischen Ungarn und Serbien am 15. 09.2015 leitete die Fluchtbewegung auf der sogenannten Balkanroute über die serbokroatische und kroatisch-slowenische Grenze um. Was sich dort abspielt ist menschenunwürdig. Tausenden Menschen fehlt es an grundlegender humanitärer Hilfe: Wasser, Essen, Kleidung und Decken sind vielerorts zu wenig vorhanden. Fahrzeugen mit humanitären Hilfsgütern wird der Grenzübertritt verweigert – es wird versucht die wartenden Menschen zu erschöpfen, auszubrennen und durch Repressionen abzuschrecken.

Nachdem wir am 19. September unseren Urlaub abgebrochen haben um den Geflüchteten zu helfen war unsere erste Station in Harmica an der kroatisch-slowenischen Grenze. Es waren mehrere hundert Geflüchtete*Fliehende vor dem kroatischen Grenzübergang und immer mehr kamen an. Die Infrastruktur, die eine NGO versucht hat vor Ort aufzubauen war für lediglich 100 Personen ausgelegt.

Die Menschen, darunter viele Famlien mit Kindern, wollten über die Grenze nach Slowenien um sich dann weiter Richtung Norden zu bewegen. Zusammen mit slowenischen Aktivisten*innen und vielen Geflüchteten haben wir uns alle vor der kroatischen Grenze, die von Grenzpolizist*innen blockiert wurde, versammelt und mit Open the Border-Rufen und Gesängen protestiert. Nach etwa einer halben Stunde haben wir die Grenzpolizeikette einfach mit der Masse durchflossen. Zunächst ein unglaubliches Gefühl tatsächlich eine Nationalstaatsgrenze überwunden zu haben, doch der nächste (slowenische) Grenzübergang wurde von mehreren Reihen behelmter und bewaffneter harmica-103~_v-videowebm(Riot-)Polizist*innen versperrt. Die Menschen standen der Polizeikette Gesicht zu Gesicht gegenüber. Kinder wurden nach vorne gereicht und  mit ausgestreckten Rosen saßen sie auf den Schultern der Erwachsenen um eine potentielle Eskalation zu vermeiden (was nicht geklappt hat) und die Öffnung der Grenze zu erreichen.
Als es dunkler,
kälter und die Menschen erschöpfter und wütender wurden, fing in der Transitzone zwischen den Grenzen ein Gedränge an, in das durch einen Polizisten aus dritter Reihe mit Tränengas gesprüht wurde.  Es gab viele Verletzte, Frauen mit Kindern auf dem Arm brachen zusammen, Kinder hatten Tränengas im Gesicht und viele mussten teilweise über lange Zeit noch medizinisch versorgt werden.
Die Grenze blieb
in dieser Nacht geschlossen und die Menschen musten, meistens nur mit Pappkartons und einer Decke, unter freiem Himmel auf dem harten Asphalt der Straße vor der Grenze übernachten. Immer in der Unwissenheit und der großen Hoffnung das die Grenze noch geöffnet wird. Am nächsten Tag wurden dann einige Personen in Bussen „kontrolliert“ weggefahren.

http://l3.yimg.com/bt/api/res/1.2/3lYvjSFg1VyDKKdhvNnb5w--/YXBwaWQ9eW5ld3NfbGVnbztpbD1wbGFuZTtxPTc1O3c9NjAw/http://media.zenfs.com/es/News/efe.es/20150919-635782512707486633w.jpgAm nächsten Tag war dann der „Brennpunkt“ die andere kroatisch-slowenische Grenze bei Bregana/ Obrezjeein großer Autobahnübergang. Dort verbrachten wir die nächsten 4 Tage. Es waren ca. 1000 Menschen – wieder im Transit (Nomansland) – zwischen Kroatien und Slowenien gestrandet ohne jegliche Infrastruktur. Über einen Tag verbrachten sie ohne Essen und Wasser bis der selbstorganisierte SOS-Konvoi aus Wien kam. Nach und nach sammelten sich immer mehr Spenden. UNHCR und Rotes Kreuz ließen sich erst am zweiten Tag blicken. Die slowenische Polizei blockierte die Gitter, von denen das Camp umzäunt wurde mit einem massiven Aufgebot. Ständig flog ein Helikopter die Grenze entlang, um mit Wärmekameras nach Fliehenden zu suchen. In den ersten 2 Tagen fuhren nur insgesamt maximal fünf Busse Personen über die Grenze nach Slowenien. Ob, wann und wohin die Busse fuhren wusste keine*r. Zuerst erhielten Familien, Schwangere, Kranke und weniger mobile Menschen Busplätze. Viele mussten 4 Tage lang in dieser Transitzone bei Bregana ausgeharren – uninformiert, verzweifelt und erschöpft. Der einzige Arabisch-Übesetzer der Polizei war nonstop im Einsatz die Menschen völlig systemlos und willkürlich auf die Busse zu verteilen, wenn welche kamen.

Die ganze Zeit über wurde kein fliendes Wasser bereitgestellt – zum Waschen gab es lediglich Desinfektionsmittel und Feuchttücher. Die zweite Nacht war schrecklich: Es war kalt und hat geregnet und Decken und Zelte reichten nicht alle Menschen. Viele mussten draußen im Regen schlafen oder sich auf dem Boden mit Planen schützen. Kranke und Alte bei Regen und Kälte eingewickelt in (nassen) Decken auf der Straße schlafend – Bilder die im Kopf bleiben.
Abends wurde die Stimmung meist angespannter und so entstand in einer Nacht ein spontaner Protest. Hunderte Menschen gingen auf die Straße vor dem Grenzübergang und formierten eine Sitzblockade mit der Forderung: Bis uns nicht die Grenze geöffnet wird, kommt hier keine*r durch. Die Straße war für ein paar Stunden für alle blockiert. Slowenische Polizist*innen stellten zusätzliche Hamburger Gitter auf und rückten mit Hunden und Pferden an. Autofahrende stiegen aus und beschwerten sich, drohten uns einfach überzufahren. Zum Glück war viel Presse da, ansonsten wäre die Situation wahrscheinlich völlig eskaliert. Einige Geflüchtete*Fliehende gingen in den trockenen Hungerstreik, schrieben Schilder „Wir brauchen kein Essen und kein Wasser- nur Busse“. Sie hatten Essen und Wasser demonstrativ vor sich auf die Straße gestellt.
Als dann die ganze Grenze auch für Nicht-fliehende blockiert war, war es der slowenischen Regierung offensichtlich doch möglich innerhalb weniger Stunden so viele Busse kommen zu lassen, dass alle Geflüchteten mitgenommen wurden.

Nachdem in dieser Nacht in Bregana alle Geflüchteten aus dem Transit nach Slowenien gefahren worden waren, drohte die slowenische Polizei das Camp mit Gewalt zu räumen, wenn wir den Ort nicht verlassen und das Camp abbauen wurden. Völlig absurd, denn natürlich würden weitere Menschen evtl. schon am nächsten Tag dort ankommen und wieder humanitäre Unterstützung benötigen. Nachdem dann bis nachmittags das gesamte Camp mit viel Arbeit von uns aufgeräumt und wegtransportiert worden war, gab die Polizei tatsächlich selber die Info an uns, dass 500 weitere Menschen am nächsten Tag erwartet würden und das Ganze von vorne beginnt.
http://ww3.hdnux.com/photos/41/10/10/8684054/7/920x920.jpgDienstag fuhren wir an die serbokroatische Grenze, wo auf serbischer Seite in Sid tausende
Fliehende die Nacht ohne ausreichend Essen, Wasser und Decken vor der Grenze verbringen mussten. Als wir ankamen waren schon alle weitertransportiert worden. Der Anblick des hauruckartig verlassenen Platzes war erschütternd! Viele hatten nachts Feuer gemacht und alles mögliche verbrannt , um sich zu wärmen. An Versorgung gab es lediglich das, was selbstorganisierte Helfer*innen mit Autos angefahren hatten.

http://tuzlalive.ba/wp-content/uploads/2015/09/izbjeglice_opatovac_fah-700x357.jpgWir fuhren weiter nach Opatovac (Kroatien), wo das kroatische Militär ein Camp zur Registrierung der Fliehenden eingerichtet hatte.
Vor dem Registrierungscamp, auf das uns der Zutritt zuerst verweigert wurde, haben wir mit vielen weiteren Unterstützer*innen ein Camp aufgebaut, wo wir versucht haben die Ankommenden zu versorgen. Es kam ein voller Bus (auch Polizeigefängnisbullis) nach dem anderen aus Serbien an. Im Camp selber – indem die Geflüchteten teilweise 4 Tage blieben – hat das Rote Kreuz lediglich Äpfel und Bananen verteilt. Bis die Menschen ins Registrierungscamp gelassen wurden mussten sie teilweise 4 Stunden warten. In dieser Zeit konnten wir die Menschen mit warmen Essen, Wasser und Decken versorgen. Nachts wurde es sehr kalt und Menschen lagen über das große Gelände auf dem Boden verteilt unter den Decken, die wir oder der UNHCR auftreiben konnte. Irgendwann nachts, als die Busse von der serbischen Grenze (Bapska) nicht mehr fuhren, haben wir angefangen selber mit Autos Richtung Babska los zufahren, von wo Menschen 25 km nach Opatovac laufen mussten, um zumindest Kranke oder Frauen mit Babies und Kinder abzuholen. Das Bild, wie Ströme von Menschen im eiskalten Nebel die Straße entlang gingen und teilweise so erschöpft waren, dass sie sich am Straßenrand schlafen gelegt haben, war schrecklich. Die Begrenztheit an Unterstützungsmöglichkeiten für alle, wegen mangelndem Platz im Auto o.Ä. war schwer auszuhalten.

Am nächsten morgen, bei wieder 35°C, wurden die Leute von Gittern umzäunt zusammengepfercht, um zu den Bussen gebracht zu werden, die sie durch Kroatien an die Ungarische Grenze bringen sollten. Es entstand ein Gedränge und Unruhe in der Menschenmasse, viele waren unterzuckert und dehydriert, weil sie stundenlang in der prallen Hitze warten mussten. An einer Stelle setzte die Polizei massiv Tränengas und Schlagstöcke ein um die Geflüchteten zu zwingen sich in Zweier-Reihen auf den Boden zu 20150923_143604setzen. Erinnerungen an Bilder der Sklaverei kamen hoch. Wieder gab es viele Verletzte und Menschen die kollabiert sind. Für Presse galt der hintere Teil des militärischen Camps als verbotene Zone. Die Szenen, die sich dort abspielten, waren erniedrigend. Ein Unterstützer und ein Journalist wurden auf Anordnung des kroatischen Innenministers, der zuvor eine Pressekonferenz (in der aufgeräumten Zone) gegeben hatte, verhaftet, weil sie gefilmt haben. Einer Person von uns wurde die Kamera fast weggenommen, weil sie einen Polizisten in seiner absolut machtdemonstrierenden unterdrückenden Position fotografiert hatte. Daraufhin wurde sie von drei Beamten gezwungen das Bild zu löschen. Eine weitere Person wurde vom Polizeiarzt weggeschubst, als er den Verletzten die Augen ausspühlen wollte. Auch hier sind wieder einige Menschen in den trockenen Hungerstreik gegangen. Sie haben zerschnittene Isomatten mit Slogans wie 20150923_150611„Police is like ISIS“ , „Police is terrorists“ etc. beschrieben und hochgehalten – nur die Presse fehlte.
W
ährenddessen kamen vorne immer mehr Busse voller Menschen an. Irgendwann hat uns tatsächlich das Rote Kreuz den Zugang auf das Militärcamp verwehrt, unter anderem wegen politischer Botschaften wie „Freedom of Movement“ auf zwei Transparente einer Vokü, die hier scheinbar unpassend seien. Es war unglaublich willkürlich und ohne System wie das Rote Kreuz, UNHCR und die Polizei sich verhalten und miteinander kooperiert haben. Ein Gegeneinander arbeiten in einer solchen Situation ist wohl das unproduktivste was mensch machen kann!

IMG_0139Vieles was hier wirklich passiert, kommt in der Mainstreampresse z.B. ARD nicht vor, da sie nur „das ordentliche und strukturierte“ Camp vor der „verbotenen Zone“ sieht und darüber berichtet, wie der UNHCR Äpfel verteilt und die netten Polizisten mit den Kindern Fußball spielen. Dass Menschen mit Schlagstöcken umher geschubst und teilweise mit Tränengas attackiert werden wird verschwiegen. Auch das die Polizei und das Militär bewusst und aktiv immer wieder versucht Helfer*innen zu hindern und zu kriminalisieren findet keinen Platz in der deutschen Berichterstattung.
Es ist eine unglaublich entwürdigender und menschenverachtender Umgang mit schutzbedürftigen Menschen. Wir haben mit vielen Menschen gesprochen, die alles verloren haben in Syrien, Afghanistan, Irak, Somalia, Pakistan oder sonst wo. Diese Menschen sind auf der Suche nach Sicherheit und Schutz. Die Antwort von oben ist, „eigene Grenzen“ zu „schützen“. Wovor? Was den Schutzsuchenden begegnet ist Abschottung, Ablehnung, eine menschenunwürdige Behandlung durch Polizist*innen und Militärs- und das immer und immer wieder.
Es gibt transnational viele Unterst
ützer*innen, die immer wieder an verschiedenen Orten versuchen zu helfen und Infrastrukturen zu schaffen, damit wenigstens die Grundbedürfnisse nach Essen, Wasser, Wärme und medizinischer Versorgung gewährleistet werden können. UNHCR und Rotes Kreuz haben sich immer wieder sehr zurückhaltend und unkooperativ mit den selbstorganisierten Volonteers gezeigt. Dabei waren diese meist die ersten und teils die einzigen Helfer*innen vor Ort um grundlegende humanitäre Versorgung zu leisten. Wie viele Milliarden werden in Grenzabschottung, Militärcamps und repressive Maßnahmen investiert, anstatt humanitäre Hilfe zu leisten und Strukturen zu schaffen, die es Menschen ermöglicht Schutz zu bekommen und ein menschenwürdiges Leben zu führen?!

Hier eine paar Seiten für aktuelle Infos:

Refugee Help Map:
https://www.google.com/maps/d/viewer?mid=zddfRUtGScOc.kQBgTQcoV5FM

Liveticker Bordermonitoring:

http://balkanroute.bordermonitoring.eu/

SOS-Konvoi:

https://www.facebook.com/SOSkonvoi/

Shame on You, Europe!

Für die Öffnung aller Grenzen und Solidarität mit Allen Geflüchteten überall!

21REFUGEES-master675 20150919-635782512690794740w 20150922_160403 20150923_143841 20150923_144711 20150923_145909  1027329669FullSizeRender IMG_0105  IMG_0146 IMG_0155 IMG_0886 IMG_1040