Behrensen, Birgit; Groß, Verena. Auf dem Weg in ein „normales Leben“? Eine Analyse der gesundheitlichen Situation von Asylsuchenden in der Region Osnabrück. Osnabrück: 2004.

Forschungsergebnisse des Teilprojektes „Regionalanalyse“  im Rahmen der EQUAL-Entwicklungspartnerschaft „SPuK – Sprache und Kultur: Grundlagen für eine effektive  Gesundheitsversorgung“

Volltext hier sowie unter http://www.equal-saga.info/docs/SPuKRegionalanalyse.pdf

„EINLEITUNG

Die hier vorgelegte Untersuchung zur gesundheitlichen Situation von Asylsuchenden in der Region Osnabrück ist als Teil der niedersächsischen EQUAL- Entwicklungspartnerschaft „SPuK: Sprache und Kultur – Grundlagen für eine effektive Gesundheitsversorgung“ konzipiert worden. 1 Eingebettet in die Förderrichtlinien der EU-Gemeinschaftsinitiative EQUAL, mit der neue Wege zum Abbau von Ungleichheiten, Ausgrenzungen und Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt gesucht werden sollen, ist das Ziel der Entwicklungspartnerschaft, im Förderungszeitraum Juli 2002 bis Juni 2005 strukturelle Verbesserungen für Asylsuchende im Gesundheitsbereich modellhaft zu erarbeiten. Ansatzpunkt ist die Auffassung, dass Lebensbedingungen, Gesundheit und Arbeit in einem engen Zusammenhang zueinander stehen. Dabei wird im Sinne der Ottawa-Charta der WHO

von 1986 Gesundheit auch verstanden als „Mittel, um Individuen zu befähigen, individuelles und gesellschaftliches Leben positiv zu gestalten“ (Bengel 2002:19). Gesundheitsförderndes Handeln in diesem Sinne bedeutet ein Bemühen, gleiche Möglichkeiten und Voraussetzungen zu schaffen, um allen Menschen zu ermöglichen, ihr Gesundheitspotential zu verwirklichen. Dazu gehört unter anderem auch die Einbeziehung der sozialen Umfang, der Zugang zu den wesentlichen Informationen, die Entfaltung praktischer Fertigkeiten und die Entscheidungsfreiheit in Bezug auf die persönliche Gesundheit (World Health Organisation 1986).

Innerhalb der Entwicklungspartnerschaft stellen die hier vorgelegten Ergebnisse des Teilprojektes Regionalanalyse einen wissenschaftlichen Baustein dar, in dem die gesundheitlichen Auswirkungen der Lebensbedingungen von Asylsuchenden in der Region analysiert und ausführlich beschrieben werden.

Die Autorinnen des hier vorgelegten Berichts waren bestrebt, eine Reihe von Ansprüchen zu erfüllen, die während ihrer Forschungsarbeit an sie gestellt wurden.

Erstens ging es darum, die gesundheitlichen Folgen der Lebensbedingungen zu untersuchen. Hierfür wurde eine Fülle an empirischem Material zusammen getragen. Viele Aspekte gesundheitlicher Erfahrungen, die hier beschrieben werden, mögen denjenigen, die täglich mit den Belangen von Asylsuchenden zu tun haben oder die selbst in dieser Situation leben, bekannt vorkommen. Das Ziel der Forschung in diesem Sinne ist es nicht, völlig Neues zu entdecken. Vielmehr geht es darum, das Bekannte systematisch zu erfassen und in Beziehung zueinander zu setzen. Damit soll der hier vorgelegte Forschungsbericht einen Beitrag liefern, notwendige strukturelle Veränderungen auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Problemanalyse diskutieren und verändern zu können.

Zweitens soll der Bericht im Sinne des interdisziplinären Ansatzes des Projekts „SPuK“ unterschiedliche AkteurInnen ansprechen. Verschiedenste Fachdisziplinen sind mit den Belangen von Asylsuchenden befasst. Vor allem sind hier Verwaltungsangestellte, JuristInnen, MedizinerInnen, TherapeutInnen, SozialarbeiterInnen und WissenschaftlerInnen zu nennen. Hinzu kommen ehrenamtlich oder politisch Engagierte sowie Flüchtlingsselbstorganisationen und natürlich die Asylsuchenden selbst. Diese Gruppen sprechen nicht nur unterschiedliche (Fach-)Sprachen. Sie gehen auch von unterschiedlichen Prämissen aus und verfolgen unterschiedliche Ziele. Vor diesem Hintergrund haben die Autorinnen die Absicht verfolgt, unterschiedliche Sichtweisen deutlich werden zulassen, diese möglichst wertfrei zu beschreiben und eigene Bewertungen kenntlich zu machen. Dies mag nicht an allen Stellen für alle Gruppen zufriedenstellend gelöst worden sein. Widersprüchliche Bewertungen der Lebensbedingungen von Asylsuchenden liegen allerdings in der Sache selbst begründet, wo Meinungen mitunter einander unversöhnlich gegenüber stehen.

Drittens haben die Forscherinnen allen Befragten Anonymität zugesichert. Die Darstellungen von Einrichtungen und Personen wurden deshalb stark abstrahiert. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht möglich, im Rahmen dieser Studie die Orte, an denen bestimmte Missstände vorkommen, zu benennen. Mehr noch als um die einzelnen Missstände soll es in dieser Untersuchung darum gehen, die grundsätzlichen Strukturen herauszuarbeiten, unter denen Asylsuchende in der Region leben. Hier Lösungsansätze zu entwickeln, kann für alle Beteiligten ein Gewinn sein.

Bei der Suche nach Antworten soll insbesondere auf die Asylsuchenden selbst gehört werden, die allzu oft bloße Objekte von Verwaltungshandeln und politischen Diskursen sind. Durch ausführliche problemzentrierte Interviews wurden Erfahrungen und subjektive Deutungen dieser Gruppe eingefangen und analysiert. Um das Bild zu komplettieren, wurden im Anschluss daran eine Reihe anderer Quellen hinzugezogen, zu denen auch Interviews mit weiteren AkteurInnen des Feldes gehören.

Die Studie umfasst drei große Teile, gegliedert nach Rahmenbedingungen, Situationsbeschreibungen und (Struktur-)Analysen. Im ersten Teil des hier vorgelegten Berichts werden die theoretischen und forschungsmethodischen Zugänge zur Untersuchung dargelegt. Die thematischen Erläuterungen im ersten Kapitel beinhalten insbesondere die rechtlichen Grundlagen, auf denen sich die Lebensbedingungen von Asylsuchenden auch in der untersuchten Region begründen. Im daran anschließenden zweiten Kapitel werden die Forschungsfragen und das methodische Vorgehen erläutert. Dieses Kapitel dient der Transparenz der Ergebnisgenerierung.

Im zweiten Teil werden die Befunde dargestellt, die in der Fülle des erhobenen Materials im Hinblick auf die gesundheitliche Situation von Asylsuchenden zu finden waren. In insgesamt sechs Kapiteln werden unterschiedliche Schwerpunkte zu dieser Frage beleuchtet.

Im dritten Teil werden diese Befunde schließlich zusammen gefasst, in Beziehung zueinander gesetzt und hinsichtlich der sich abzeichnenden Lösungsansätze und Handlungsempfehlungen ausgewertet. Zwei Ergebnisse können bereits an dieser Stelle hervorgehoben werden:

  • Ein zentrales Ergebnis ist die herausragende Bedeutung, die ein selbstbestimmtes Leben für die Gesundheit hat. Je weniger Möglichkeiten Asylsuchenden gelassen werden, ihr eigenes Leben zu gestalten, um so größer ist die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf die Gesundheit.
  • Ein weiteres Ergebnis ist die Notwendigkeit, Versorgungs- und Verwaltungsstrukturen zu schaffen, die Asylsuchenden ermöglichen zu verstehen und zu beeinflussen, was mit ihnen passiert. Die sich zur Zeit entwickelnden regionalen Strukturen, Asylsuchende zentral unterzubringen, zu versorgen und zu verwalten, stehen einer solchen Notwendigkeit entgegen. Diese Form der Organisation führt eher zu einem Teufelskreis, in dem Asylsuchende allmählich ihre Handlungsmöglichkeiten und eigenen Handlungsfähigkeiten verlieren.“

„13. Resümee, Lösungsansätze und Handlungsempfehlungen

Das Unsicherheitsmodell verdeutlicht, wie die Bedingungen, mit denen Asylsuchende in der Region leben, krankheitsverursachende, -verstärkende und -erhaltende Verunsicherungen produzieren. Wird Gesundheit im Sinne von Antonovsky verstanden als dynamisches Geschehen, das wesentlich von dem Gefühl bestimmt wird, die innere und äußere Erfahrungswelt verstehen zu können und Einfluss auf sie auszuüben (vgl. Kap. 1.2), dann wird deutlich, dass Lebensbedingungen, die zu Unsicherheit und Perspektivlosigkeit führen, gesundheitsschädigend sind. Ob der oder die Einzelne krank wird, hängt – wie Antonovsky in seinen Untersuchungen auch zeigt – mit einer Reihe anderer Faktoren zusammen. Festgehalten werden muss aber, dass Lebensbedingungen, die eine allgegenwärtige Präsenz von Perspektivlosigkeit und Unsicherheit produzieren und verstärken, nicht geeignet sind, Asylsuchende, die belastende Fluchterfahrungen hinter sich haben, in ihrer Gesundheit zu stärken.

Die empirischen Befunde zeigen, dass es notwendig ist, Bedingungen zu schaffen, die Asylsuchenden Möglichkeiten selbständiger Lebensgestaltungen erhalten, stärken und schaffen.

Das Teufelskreismodell verdeutlicht, wie zentralisierte Versorgungs- und Verwaltungsstrukturen dazu beitragen, dass Asylsuchende in der schwierigen Phase des Wartens auf Asyl zunehmend in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Die Ergebnisse zeigen einen engen Zusammenhang zwischen dem durch das System produzierten Mangel an Handlungsmöglichkeiten für Asylsuchende, dem dadurch produzierten steigenden Bedarf an Unterstützung und die damit einhergehende Belastung derjenigen, die für die Versorgung und Verwaltung von Asylsuchenden zuständig sind.

Um den Menschen in ihrer aufgrund des Asylverfahrens ohnehin belasteten Lebenssituation gerecht zu werden, müsste auf Seiten der Verwaltung und Versorgung alles getan werden, um die Produktion von krankheitsverursachenden, -erhaltenden, und –verstärkenden Verunsicherungen zu reduzieren. Dies kann unterstützt werden durch:

  1. eine Rückkehr zu höheren Anteilen selbstbestimmter Lebensgestaltung. Hier wären beispielsweise die Schaffung von individuellen Kochmöglichkeiten in zentralisierten Unterkünften zu nennen. Hierzu gehört aber auch eine Abkehr vom Sachleistungsprinzip, von dem Asylsuchende in den Kommunen betroffen sind.
  2. eine Trennung des direkten Wohnbereichs der Asylsuchenden von den Verwaltungseinrichtungen, die für sie zuständig sind. Im Unterschied zu Asylsuchenden, die dezentral in Wohnungen oder in einer Gemeinschaftsunterkunft leben, existiert bei Asylsuchenden in zentralisierten Unterbringungen diese Trennung nicht.
  3. Hinweise auf Hilfeangebote bei Ankunft in der Kommune. Hierzu gehören auch Informationen über das Gesundheitssystem, seine Funktionsweise, den Zugang und die bestehenden Ansprüche.
  4. Ausbau und Finanzierung qualifizierter Sprachmittlung im Gesundheitsbereich.
  5. eine Entflechtung von Versorgungs- und Verwaltungseinrichtungen durch eine deutliche Trennung zwischen interner und externer Beratung für Asylsuchende in zentralisierten Unterkünften. Gemeint ist damit, dass allein Beratung, die direkt mit Folgen der Unterbringung zu tun hat, intern durch die dortige Sozialberatung geleistet werden sollte. Die darüber hinaus gehende Beratung bezüglich Integration (auf Zeit), Asylrecht und Rückkehr sollte deutlich getrennt durch externe Anbieter aus dem Bereich von Nichtregierungsorganisationen angeboten werden. Einen Ansatz für eine solche Trennung kann das bestehende Angebot der Gesundheitsversorgung in einer zentralisierten Unterkunft sein, in der diese nicht durch Landesangestellte sondern durch Selbstständige und MitarbeiterInnen einer Nichtregierungsorganisation gestellt wird. Allerdings müsste auch in diesem Fall die institutionelle Trennung stärker als bisher für die Asylsuchenden sichtbar sein und die Möglichkeit einer alternativen Wahl deutlich gemacht werden.“