Während die mediale Aufmerksamkeit zur Situation an der polnisch-belarussischen Grenze fast vollständig abgeflaut ist, wird dort auf beiden Seiten der Grenze immer brutaler gegen die geflüchteten Menschen vorgegangen. Eine 16-köpfige kurdische Familie, darunter eine schwangere Person mit starken Schmerzen, erlebte drei Pushbacks (also illegale Zurückweisungen ohne die Chance auf Asylantragstellung) nach Belarus in Folge. Den Wintereinbruch Anfang April überstanden sie nur mit viel Glück. Aktivist*innen berichten von einem immer gewalttätigeren Vorgehen der Grenzpolizei, von Verelendung, Hunger und Krankheitsausbrüchen. Ein 16-jähriger liegt seit zwei Tagen bewusstlos in den belarussischen Wäldern, trotzdem verweigern ihm die Örtlichen Beamt*innen die dringend notwendige medizische Hilfe verweigert. Die Situation ist unaussprechlich katastrophal und steht im krassen Kontrast zur Öffnung der polnisch-ukrainischen Grenze nur wenige Kilometer entfernt.
Die so groß gefeierte bürgerliche Solidarität ist viel zu oft von rassistischer Selektion geprägt und bezieht sich häufig nur auf Personen mit (rassistisch gedachter und zugeschriebener) sogenannter „kultureller Nähe“ zum mehrheitsgesellschaftlichen „Wir“. Aus allgemeinem Lob für Solidarität wird schnell der Vorwurf von krimineller Mittäter*innenschaft – abhängig davon, wem die Solidarität gilt. Ein Beispiel: Vor Kurzem wurden in Polen vier Aktivist*innen festgenommen, nachdem sie an der polnisch-belarussischen Grenze einer geflüchteten Familien halfen. Kurz zuvor hatten die Vier Strukturen an der Grenze zur Ukraine unterstützt. Für die eine Hilfe wurden sie gefeiert, für die andere kriminalisiert.
Wir alle sehen und erleben es gerade an allen nur denkbaren Stellen: Auch – und sogar gerade – angesichts des brutalen Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine, bestehen rassistische Kategorisierungen und Hierarchisierungen von fliehenden Menschen fort! Während fliehende ukrainische Staatsangehörigen zum Glück bisher noch relativ unkompliziert geholfen und vieles lang geforderte endlich möglich wird, werden weitere fliehende Menschen tagtäglich durch die militarisierte Abschottungspolitik der EU getötet. Insbesondere intersektional (also von unterschiedlichen miteinander verschränkten und sich verstärkenden Ungleichheiten betroffenen) diskriminierten Menschen werden sichere Fluchtwege verweigert. Stattdessen werden sie auf tödliche Routen gezwungen, in Lagern eingesperrt, ausgebeutet und abgeschoben. In anderen Worten: Es wird unterschieden zwischen gutem Flüchtling und schlechtem Flüchtling. Zwischen guter Herkunft und schlechter Herkunft. Dabei spielt die Geschichte des westlichen Kolonialismus ohne Zwefeil eine große Rolle. Und so besteht die brutale Grenzpolitik der EU als kolonial-rassistisches Herrschaftssystem und kapitalistisches Projekt fort.
Um es noch einmal klar zu sagen: Es darf nicht darum gehen, die Unterscheidungen zwischen Flüchtenden aus unterschiedlichen Ländern zu übernehmen und weiterzuführen. Die Situation ist zu vielschichtig für verkürzte Analysen. Fliehende Ukrainer*innen werden anti-slawistisch abgewertet, durch sexualisierte Gewalt und Menschenhandel bedroht und Ausbeutung ausgesetzt – auch das muss benannt werden! Vielmehr kritisieren wir die in Medien und gesellschaftlichen sowie politischen Debatten sichtbare rassistische Grundhaltung der europäischen Migrationspolitik. Diese wirkt sich auch in tödlichen Praktiken der Polizei und den Grenzbehörden aus. Genauso kritisieren wir Teile der mehrheitsgesellschaftlichen deutschen „Willkommenskultur“, die allzu oft nur selektiv und performativ solidarisch ist. Die Gleichzeitigkeit von grenzpolitischen Öffnungen und fortbestehender brutaler Abschottung muss offengelegt und bekämpft werden!
Wir sind solidarisch mit allen Menschen, die Krieg und Vertreibung erfahren – ob in der Ukraine, Jemen, Afghanistan oder anderswo! Wir sind solidarisch mit den Kriegsgegner*innen in Russland, die trotz heftigster staatlicher Repression weiter auf die Straße gehen! Wir sind solidarisch mit allen Deserteur*innen, die sich auf beiden Seiten weigern zu kämpfen und zu sterben! Mit einer zeitnahen Kundgebung wollen wir deshalb laut werden und Aufnahme und Bleiberecht für alle Menschen fordern! Lasst uns gemeinsam gegen die europäische Abschottungspolitik, gegen Rassismus, gegen Krieg und identitäre deutsche Aufrüstungseuphorie auf die Straße gehen!